Dynamics of Contemporary Constitutionalism in Eurasia: Local Legacies and Global Trends

Die Verfassungsentwicklung in den „neuen Demokratien“ Eurasiens ist sehr dynamisch. Im postsow­jetischen Raum verstärken die Verfassungsänderungen von 2020 die isolationistischen, traditionalis­tischen und imperialen Elemente der russischen Verfassung. In Usbekistan hingegen findet eine vor­sichtige, von oben gesteuerte Liberalisierung statt, während in anderen Staaten wie etwa der Ukraine, Georgien und Armenien zu verschiedenen Zeitpunkten vom Volk befeuerte politische Umwälzungen die jüngere Verfassungsentwicklung entscheidend mitgeprägt haben. In Belarus wiederum versucht die Führung, nach den vorsichtigen Öffnungen der letzten Jahre eine derartige Umwälzung zu ver­hindern; im Ergebnis wirkt die Verfassungsentwicklung wie versteinert. Über die Nachfolgestaaten der Sowjetunion hinaus ist die grenzüberschreitende Verfassungsdebatte in Eurasien geprägt von dem – scheinbaren oder tatsächlichen – Gegensatz der v.a. von Europa postulierten Universalität der Men­schenrechte und den v.a. von einigen asiatischen Staaten betonten „asiatischen Werten“, deren Inhalt zwischen einer stärkeren Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums und der Legitimation autori­tärer Strukturen oszilliert. In vielen Staaten Eurasiens ist der Aufbau einer unabhängigen Justiz und die Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit ein zentrales Problem ihres Verfassungslebens. Das gilt für die ehemals sozialistischen Staaten ebenso wie für Staaten mit anderen Diktaturerfahrungen wie etwa Südkorea. Die Instrumente zur Stärkung der Justiz sind dabei trotz unterschiedlicher Aus­gangslagen ähnlich: Gerichtsreformen, Justizräte, Verfassungsgerichte.

Um die Vielfalt der Phänomene zu sichten und zu systematisieren, gemeinsame Problemstellungen und Lösungsansätze, aber auch unterschiedliche Strategien und „nationale Besonderheiten“ zu iden­tifizieren und zu analysieren, haben das Institut für Ostrecht (IOR), das Centre for Asian Legal Exchange (CALE) der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Nagoya, die Staatli­che Rechtsuniversität Taschkent (TSUL), das Nationale Menschenrechtszentrum Usbekistans und die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Melbourne 2020 das Projekt „Dynamics of Con­temporary Constitutionalism in Europa: Local Legacies und Global Trends“ gestartet.

Das Projekt besteht aus zwei Schritten. In einem ersten Schritt sorgten 2020 zwei Seminare mit Wis­senschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowohl aus verschiedenen eurasischen Staaten als auch von deutschen, japanischen und australischen Forschungseinrichtungen und Universitäten für eine Be­standsaufnahme der genannten heterogenen Phänomene und eine erste Systematisierung und Einord­nung. Das erste Seminar zeichnete ein breiteres Tableau und bestand aus Panels über „Similar and Diverse Scenarios in Asian Constitutional Evolution“, „Constitutionalism in the ASEAN Region“ und „Constitutionalism in Eurasian Transitional Countries“. Demgegenüber konzentriert sich das zweite Seminar, das nur noch online stattfinden konnte, stärker auf den osteuropäisch-nordasiatischen Raum. Es war in die Panels „The Past and Present Challenges to Post-Socialist Constitutionalism“ und „Rights, Judicial Review and its Effects“ gegliedert.

Auch der zweite Schritt konzentriert sich räumlich auf den osteuropäisch-nordasiatischen Raum. Die Referentinnen und Referenten, die an den Seminaren teilgenommen haben, überarbeiten auf der Grundlage der Diskussionen in den Seminaren ihre Berichte und erstellen eine publikationsfähige Schriftfassung. Zudem wurden weitere Autorinnen und Autoren um schriftliche Beiträge gebeten. So entsteht ein umfassender Sammelband, der in den „Studien des Instituts für Ostrecht“ veröffentlicht wird. Die Publikation ist für Ende 2021, Anfang 2022 vorgesehen.