Gescheiterte Transfers / Failed Transfers

Rechtstransfers sind seit einigen Jahren ein wichtiges und dynamisches Thema in der deutschspra­chi­gen und internationalen Rechtsvergleichung. Unter Rechtstransfers verstehen wir absichtlich weit den Transport[1] von rechtlichen Lösungen von einer Rechtsordnung in die andere. Gegenstand eines Transfers können ein konkreter Text, eine mehr oder weniger präzise umrissene Regelungskonzep­tion oder auch eine eher vage Regelungsidee sein. Der Ursprung des Transfergegenstands liegt regel­mäßig in einer ausländischen Rechtsordnung. In geeigneten Fällen berücksichtigen wir auch das Schöpfen aus der eigenen Rechtsgeschichte: Jedenfalls dann, wenn die Traditionslinien zwischen dem historischen Recht und der Rechtsordnung im Transferzeitpunkt abgebrochen sind, kann auch das Wiederbeleben einer eigenen historischen Lösung als Transfer begriffen werden. Die Transfer­methode kann darin bestehen, dass

  • dem Empfängerstaat eine rechtliche Lösung aufgezwungen wird (oktroyierter Transfer) oder
  • die Übernahme einer rechtlichen Lösung die Voraussetzung für vom Empfängerstaat gewünschte Ziele, z.B. die EU-Mitgliedschaft, ist (notwendiger / supranationaler Transfer) oder
  • der Empfängerstaat sich freiwillig für den Import einer Lösung entscheidet und hierbei durch den Geberstaat aktiv unterstützt wird, z.B. durch Beratung (begleiteter Transfer) oder
  • der Empfängerstaat sich freiwillig für den Import einer Lösung entscheidet und hierbei alle notwen­digen Arbeiten in Eigenregie durchführt (autonomer Transfer).

Die Grenzen sind fließend, insbesondere bei supranationalen Transfers oder zwischen einem beglei­teten und einem autonomen Transfer.

Meist konzentrieren sich die Forschungen auf gelungene Trans­fers und / oder die Bedingungen für ein Gelingen der Verpflanzung rechtlicher Lösungen von einer Rechtsordnung in eine andere. Unser Projekt nimmt die entgegengesetzte und damit komplementäre, bislang deutlich untererforschte Sichtweise ein: die der gescheiterten Transfers. Wir wollen anhand osteuropäischer „Präzedenzfälle“ aus der Zeit seit dem Ende des Sozialismus Typologien des Scheiterns identifizieren und daraus Er­kenntnisse über die Vorausset­zungen für das Scheitern oder zumindest über Umstände und Konstel­lationen, die das Scheitern be­güns­tigen, entwickeln. Um uns nicht vorschnell einzuengen, gehen wir von einem breiten Begriff des Scheiterns aus und fassen hierunter alle Fälle, in denen das transferierte Recht nicht die Funktion erfüllt, die mindestens ein relevanter Akteur des Transferprozesses (Geber­staat, Nehmerstaat, Beratungsinstitution etc.) ihm zugewiesen hat. Abschließend wollen wir diese Erkenntnisse an der umgekehrten Perspektive des Mainstreams, nämlich der Identifizierung von transferfördernden Faktoren, messen.

Osteuropa hat eine lange Transfergeschichte. Man denke nur an den Aufbau kompletter Verfassungs- und Rechtsordnungen durch Rezeption in Südosteuropa nach der Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich ab der Mitte des 19. Jh. oder die Bemühungen der neuen Staaten Polen, Tschechoslowakei und Jugoslawien in der Zwischenkriegszeit, eine eigene Rechtsordnung auch durch Rechtstransfers auf­zubauen. Während der Zeit der sowjetischen Vorherrschaft strömten mehr oder weniger erzwungene (oktroyierte) Transfers aus dem sowjetischen Recht in die Rechtsordnungen der Satellitenstaaten, aber auch in die Rechtsordnungen der ohne sowjetischen Einfluss sozialistisch gewordenen Staaten Jugoslawien und Albanien. In allen diesen Transferprozessen kann man Erfolge und Scheitern, Über­nahmen und Abstoßungen verschiedener Art identifizieren. Trotz dieser langen Traditionen von Transfers in der Region konzentriert sich unser Projekt auf die Zeit ab dem Ende des Sozialismus, weil vor allem die heu­ti­gen Bedingungen für das Scheitern oder Gelingen von Rechtstransfers inte­ressieren. Da alle Staa­ten, die den Sozialismus überwunden hatten, sich einig waren, dass das vor­handene sozialistische Recht durch ein „zeitgemäßes“ Recht, das auf Demokratie, Rechtsstaatlich­keit, Marktwirtschaft, Zivilge­sell­schaft, individueller Freiheit und sozialer Verantwortung beruht, er­setzt werden müsse, startete ab 1989/90 der Umbau der gesamten Rechtsordnungen in Osteuropa. Hierbei stellten die westeuropäischen und nord­amerikanischen Staaten den Zustand dar, den die ost­europäischen Gesellschaften oder jeden­falls ihre Eliten erreichen wollten, weshalb sich Transfers von West nach Ost anboten. Diese West-Ost-Transfers wurden durch poli­tische Prioritäten und eine blü­hende Beratungsindustrie in den westlichen Ursprungsländern der Trans­fers intensiv gefördert.

Arbeitsschritte mit hausinternen Ressourcen:

1. Materialsammlung

Die wissenschaftlichen Referentinnen und Referenten (in der Folge gemeinsam: Länderreferenten) des Instituts für Ostrecht (IOR) sammeln Präzedenzfälle für gescheiterte Rechtstransfers in der Rechtsentwicklung „ihrer“ Forschungsländer aus den letzten 30 Jahren. Auch wenn diese Material­sammlung am Beginn der Projektarbeit steht, wird sie während der gesamten Projektlaufzeit fortge­führt, um ein möglichst weites Spektrum an Fallmaterial zu haben.

2. Repräsentative Narrative

Aus der Fülle des gesammelten Materials wählen die Länderreferenten repräsentative Fälle aus. Bei der Auswahl wird darauf geachtet, dass

  • möglichst viele Rechtsgebiete vertreten sind: Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Privatrecht, Strafrecht;
  • möglichst viele Staaten berücksichtigt werden;
  • unterschiedliche Gegenstände und Formen des Transfers vorkommen;
  • verschiedene Arten des Scheiterns behandelt werden, z.B. Nichtanwendung, andere Anwendung als erhofft, Transfer von im Ausgangsstaat gescheiterten Lösungen etc.

Die Länderreferenten bringen diese Narrative in eine einheitliche Form, die aus drei Schritten besteht:

  • Sachverhaltsschilderung
  • Begründung des Scheiterns
  • Analyse.

Auf diese Art und Weise wird eine erste Vergleichbarkeit zwischen den Narrativen hergestellt.

Die Narrative werden auf der Webseite des Projekts, die auf der Webseite des Instituts für Ostrecht (www.ostrecht.de) angesiedelt ist, veröffentlicht.

3. Dogmatische Vorstrukturierung

Die Materialsammlung und insbesondere deren Überführung in ausgewählte Narrative erlauben eine dogmatische Vorstrukturierung des Phänomens „Transfer“ und des Phänomens „Scheitern“.

Beim „Transfer“ kommen die genannten Unterscheidungen in Betracht:

a) Gegenstand

  • Text (Wortlaut)
  • Regelungskonzeption
  • Regelungsidee;

b) Quelle

  • Ausland
  • eigene Geschichte;

c) Verfahren / Methode

  • Oktroi
  • notwendiger Transfer z.B. im Rahmen der supranationalen Integration
  • begleiteter Transfer
  • autonomer Transfer.

Das Phänomen des „Scheiterns“ kann ebenfalls in mehrere Dimensionen aufgegliedert werden:

a) Zeitpunkt des Scheiterns

  • Scheitern während des Transferprozesses: z.B. das beabsichtigte Gesetz scheitert im Parlament oder vor dem Verfassungsgericht
  • Scheitern nach dem Transferprozess: z.B. das transferierte Recht wird von der Praxis ignoriert oder ist vom Gesetzgeber von vornherein nicht zur Anwendung beabsichtigt gewesen;

b) Umfang des Scheitern

  • das transferierte Recht wird überhaupt nicht angewendet
  • das transferierte Recht wird nur in Teilen angewendet
  • das transferierte Recht wird dysfunktional angewendet
  • das transferierte Recht wird anders als in der Ursprungsrechtsordnung, in der Empfängerrechtsord­nung dysfunktional angewendet
  • das transferierte Recht wird anders in der Ursprungsrechtsordnung, aber in der Empfängerrechts­ordnung funktional angewendet
  • das transferierte Recht wird wie beabsichtigt, aber erst sehr viel später angewendet
  • das transferierte Recht wird missverstanden, d.h. der Transferierende (regelmäßig der Empfänger­staat) stellt sich unter dem transferierten Recht etwas anderes dar, als es in der Ursprungsrechtsord­nung tatsächlich ist; ein Sonderfall dieses Missverstehens ist das sprachliche Missverstehen, d.h. das falsche Übersetzen, was insbesondere dann von Bedeutung sein kann, wenn der Transfergegenstand ein Normtext (Wortlaut) ist;

c) Akteure, an denen der Transfer scheitert

  • Akteure aus der Ursprungsrechtsordnung: der Ursprungsstaat, Berater etc.
  • Akteure aus einem dritten Kontext: Berater, die nicht aus der Ursprungsrechtsordnung kommen, sondern aus anderen Zusammenhängen
  • die folgenden Akteure entstammen alle der Empfängerrechtsordnung:
  • Normgeber: Parlament, Regierung; hierzu gehört auch der Fall, dass Parlament und/oder Regierung den Transfer abbrechen, weil die öffentliche Meinung dagegen ist
  • Normanwender: Gerichte, Verwaltung
  • nicht staatliche Rechtspraxis: Unternehmen, Rechtsanwaltschaft, Private
  • Rechtswissenschaft;

d) Ursachen für die Nichtanwendung, dysfunktionale, verspätete oder andere Anwendung

  • Materie eignet sich nicht für Transfers
  • Regelung stellte bereits im Ursprungsland ein Scheitern dar
  • Inkompatibilität mit höherrangigem Recht
  • Inkompatibilität mit materiellem Recht
  • Inkompatibilität mit Verfahrensrecht
  • Inkompatibilität mit der vorhandenen Institutionenlandschaft
  • vom transferierenden Normgeber von vornherein nicht für die praktische Anwendung erlassen, z.B. symbolische Gesetzgebung, Windowdressing
  • Usurpation durch Normanwender, die das transferierte Recht gezielt gemäß ihren Bedürfnissen an­wenden
  • Normanwendern und/oder nicht staatlicher Rechtspraxis ist das transferierte Recht nicht bekannt; hierzu gehören auch die Fälle, dass der transferierende Staat die legistische Vor- oder Nachsorge unterlässt
  • von Normanwendern und/oder nicht staatlicher Rechtspraxis wird das transferierte Recht nicht ak­zeptiert, z.B. wegen kultureller Inkompatibilität
  • von Normanwendern und/oder nicht staatlicher Rechtspraxis wird das transferierte Recht nicht be­nötigt.

Diese vierdimensionale Matrix stellt eine vorläufige dogmatische Vorstrukturierung dar und wird im weiteren Verlauf des Projekts noch ausgebaut.

Arbeitsschritte in einem drittmittelgeförderten Forschungsprojekt:

Die zuvor genannten Arbeitsschritte werden mit den Ressourcen des Instituts für Ostrecht und der Universität Regensburg durchgeführt.

Eine vertiefte wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas „Gescheiterte Transfers“ geht weit über die Kapazitäten dieser beiden Institutionen hinaus. Es ist notwendig, weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (in der Folge gemeinsam: externe Forscher) hinzuzuziehen, um

  • die Materialsammlung und die Sammlung repräsentativer Narrative zu erweitern,
  • die dogmatische, rechtspolitische und rechtssoziologische Bewertung aus den osteuropäischen Transferempfängerländern kennenzulernen: Handelt es sich in den einzelnen Fällen aus deren Sicht überhaupt um ein Scheitern, und wenn ja, um welche Art?
  • In geeigneten Fällen wird auch die Perspektive der gebenden Rechtsordnung einbezogen.
  • eine abstrakte, um relevante weitere Disziplinen (Rechtstheorie, Politologie, Institutionenökono­mie, Rechtssoziologie) erweiterte Vertiefung der Konzeptualisierung der Phänomene „Transfer“ und „Scheitern“.

Abhängig von Art und Umfang einer Drittmittelförderung wird das Projekt mit folgenden weiteren Arbeitsschritten fortgeführt:

4. Gewinnung weiterer externer Forscher einschließlich Nachwuchsforscher

Externe Forscher können aus der deutschsprachigen, westlichen und osteuropäischen Rechtswissen­schaft sowie weiteren relevanten Disziplinen stammen. Bei der Gewinnung osteuropäischer externer Forscher sind die vorhandenen Netzwerke des Instituts für Ostrecht von Nutzen.

Ein besonderer Augenmerk liegt auf der Einbeziehung des wissenschaftlichen Nachwuchses (Prädoc und Postdoc). Idealerweise werden im Rahmen des Projekts Promotionen betreut.

5. Konferenz zur konzeptionellen Grundlegung

Auf dieser Konferenz, die das erweiterte Projekt förmlich eröffnet, machen sich die Länderreferenten und die externen Forscher miteinander bekannt.

Inhaltlich dient diese Konferenz der konzeptionellen Grundsteinlegung, u.a. der Klärung der Kon­zepte von Transfer und Scheitern. Zugleich werden auf der Konferenz vorhandene Narrative darge­stellt und v.a. die externen Forscher aufgefordert, weitere Präzedenzfälle und Narrative beizusteuern.

Die Konferenzmaterialien werden auf der Projektwebseite veröffentlicht. Ob eine Veröffentlichung auch als Tagungsband oder die Veröffentlichung einzelner Beiträge in Fachzeitschriften sinnvoll ist, wird im Rahmen der Konferenz auf der Grundlage des vorliegenden Materials entschieden.

6. Zugänglichmachung der Materialien, Nachwuchsbetreuung

Auf der Grundlage der zuvor beschriebenen Konferenz gehen die Projektarbeiten weiter.

Einmal im Quartal organisiert das Institut für Ostrecht einen Online-Workshop, wo alle Projektbetei­ligten über den Fortgang ihrer Forschungen berichten, aufgetretene Fragen mit den übrigen Projekt­beteiligten diskutieren und die Vernetzung ihrer Forschungsergebnisse vorantreiben. Wesentliches Element der Workshops soll die konzeptionelle und dogmatische Verarbeitung des vorhandenen Fall­materials sein, d.h. die ständige Verfeinerung und Ausarbeitung der Phänomene „Transfer“ und „Scheitern“ mit dem Ziel, belastbare Hypothesen zu entwickeln, die die Gründe für das Scheitern – und e contrario für den Erfolg – von Transfers identifizieren und analysieren. Weitere detaillierte Narrative sollen im Wesentlichen nur dann noch in den Workshops diskutiert werden, wenn sie neue Konstellationen in der konzeptionell-dogmatischen Matrix zur Erfassung des Scheiterns darstellen und somit Erkenntnisgewinn jenseits ihres Narrativs versprechen.

Eingehende Texte, sowohl Studien grundsätzlich-konzeptioneller Natur als auch weitere Narrative, werden für die Publikation auf der Projektwebseite aufgearbeitet und dort eingestellt. Umfangreichere konzeptionelle Arbeiten werden als „Working Papers“ auf der Projektwebseite veröffentlicht.

Eine begleitende Öffentlichkeitsarbeit in den Fachmedien und sozialen Medien stellt den Dialog mit Interessierten auch außerhalb der etablierten wissenschaftlichen Publikationskanäle sicher.

Die Länderreferenten und externen Forscher betreuen den teilnehmenden wissenschaftlichen Nach­wuchs entsprechend dessen Notwendigkeiten. Für Promovierende wird je nach rechtlicher Möglich­keit die Teilnahme an den genannten Online-Workshops verbindlich gemacht. Ob stattdessen und/ oder darüber hinaus weitergehende regelmäßige Formate zur Betreuung des Nachwuchses not­wendig und/oder sinnvoll sind, wird zeitnah unter Einbindung der Betroffenen entschieden.

7. Abschlusskonferenz

Die umfangreichen Teilarbeiten des Projekts werden auf einer abschließenden Konferenz zusammen­geführt und von den Projektbeteiligten erörtert. Bei dieser Konferenz stehen die bis dahin erarbeiteten Thesen zu Gründen und Umständen des Scheiterns und zur Gestaltung von Bedingungen, die für einen Erfolg förderlich sind, im Mittelpunkt.

Die Materialien auch dieser Konferenz werden auf der Projektwebseite der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Außerdem wird ein Tagungsband veröffentlicht, der neben den Konferenzbeiträgen auch die abschließende konzeptionelle und dogmatische Aufarbeitung des Scheiterns von Transfers und seiner Vermeidung, d.h. die Ergebnisse des Gesamtprojekts, beinhaltet.

Wenn Promovierende an dem Projekt teilnehmen, ist die Gründung einer eigenen Schriftenreihe sinn­voll, in der die Dissertationen, die Tagungsbände und allfällige weitere monographische Texte ver­öffentlicht werden können. Im Übrigen können Buchpublikationen im Rahmen des Projekts in der Schriftenreihe „Studien des Instituts für Ostrecht“ erscheinen.

Projektbeschreibung als PDF-Datei

Transfernarrative


[1] Wir sprechen hier absichtlich von „Transport“ und nicht von „Wandern“. Recht ist ein Produkt menschlicher Tätigkeit, das nicht von selbst, ohne menschliche Mitwirkung, von einer Rechtsordnung in eine andere gelangen kann. Eben diese Fähigkeit suggeriert das Bewegungsverb „wandern“. Da Recht immer Gegenstand menschlicher Tätigkeit ist, verwenden wir für den Transfer von Recht das Wort „Transport“, das semantisch den Objektcharakter des Rechts besser ausdrückt: Wenn rechtliche Lösungen, Gedanken etc. von einer Rechtsordnung in die andere übertragen werden, ist das eben keine eigene Bewegung des Rechts, sondern stets ein Produkt menschlicher Aktivitäten sei es in der Ausgangs-, sei es in der Empfängerrechtsordnung, sei es in weiteren Kontexten.