Post-colonial constitution-making: A new paradigm for understanding constitutional change in the former Soviet empire

Prof. Dr. Dr. h.c. Herbert Küpper, Institut für Ostrecht
Prof. William Partlett, Universität Melbourne

Das Projekt untersucht, inwieweit die Theorien über Postkolonialismus und Verfassungsentwicklung (postkoloniale Verfassungstheorie) bei der Untersuchung der Verfassungen der ehemals sozialistischen Staaten neue Aspekte zuderenVerständnis bewirken können. Bislang werden postsozialistische Verfassungen v.a. unter einem postautoritären (posttotalitären) Blickwinkel gelesen. Diesem liegt unausgesprochen die Annahme zugrunde, dass die Verfassungsentwicklung weltweit zum liberalen Verfassungsstaat tendiert. In einer solchen Sichtweise sind unvollständige Demokratisierungen oder auch Rückschlägewie in Polen oder Ungarn, wo ein mehr oder weniger vollständigdemokrati-siert erscheinender Staat in undemokratische, illiberale Zustände „zurückfällt“, nur als Scheitern zu interpretieren.

Die postkoloniale Verfassungstheorie lenkt den Blick auf andere Aspekte. Das ehemalige Mutterland muss sich mit einem neuen Selbstverständnis und einer neuen Rolle in der Welt arrangieren. Die ehemaligen Kolonien stehen oft vor der Aufgabe, Staat und Nation aufzubauen, koloniale Strukturen und Einflüsse zu überwinden oder zumindest für ihre neue Unabhängigkeitnutzbar zu machen. In einer solchen Lage ist das „Aufarbeiten der Vergangenheit“,die Aufarbeitung vergangenen Unrechts, das eine postautoritäre Interpretation der Verfassungen in den Vordergrund rückt,vielleicht einRand-problem, das von wichtigeren und drängenderen Problemlagen verdrängt wird.

Am Ende des Projekts erhoffen wir uns ein besseres Verständnis sowohl für Russland als auch die ehemaligen sowjetischen Kolonien.Dass die Sowjetunion auch als koloniales Imperium verstanden werden kann und ihre Auflösung daher mit den Maßstäben des Postkolonialismus gemessen werden kann, ist unumstritten. Dieses Messen an postkolonialen Maßstäbenhat jedoch bislang nicht stattgefunden. Hier setzt unser Projekt an. Erste Ergebnisse zeigen, dass die russische Verfassung von 1993 von einem Abschied von kolonialem Exzeptionalismus und dem Streben nach Eingliederung in das internationale Lebengeprägt war und dass die Änderungen von 2020 – auch – als Rückkehr zum Anspruch imperialer Weltgeltung und ihrer innerstaatlicher Voraussetzung, eines starken Staates mit einem starken Mann an der Spitze, verstanden werden können.

Die ehemaligen Kolonien unterteilen wir in das „innere Imperium“ (die ehemaligen Republiken der UdSSR) und das „äußere Imperium“ (die Mitglieder von Warschauer Pakt und RGW). Hier zeigen erste Ergebnisse deutliche Unterschiede. Im inneren Imperium stehen eindeutig Probleme des Aufbaus von Staat und Nation im Vordergrund, und die – typisch postkoloniale – Antwort in vielen, wenngleich nicht allen diesen Staaten ist die Zentralisierung der Staatsmacht im Präsidentenamt. Richtungskonflikte fundamentaler Art wie sie u.a. in der Ukraine und Moldova, aber auch in Armenien, Georgien und Kirgisistan zu beobachten sind („westliche“ gegen „russische“ Orientierung), sind typische Ereignisse in ehemaligen Kolonien nach der Unabhängigkeit und aus postkolonialer Sicht nichts Besonderes. Im äußeren Imperium schien zunächst alles in die erwartete postautoritäre Richtung zu laufen. Die weiteren Entwicklungen aber, v.a. ein illiberaler Populismus in Polen und Ungarn, können durch postkoloniale Theorien wie die Instrumentalisierung der kolonialen Vergangenheit (bzw. eines mehr oder weniger „erfundenen“Bildes von dieser Vergangenheit) zum Zweck des Machterhalts erklärt werden.

Das Projekt beginnt mit einer Sichtung der Theorien zu Postkolonialismus und Konstitutionalismus. Den neusten Stand der Diskussion werden wir in einer Expertenkonferenz (Online) im März 2021 aufarbeiten. Anschließend werden wir die postsozialistischen Verfassungen und ihre Entwicklung an diesen Theorien messen. Die Ergebnisse werden in englischer Sprache – in einem renommierten britischen wissenschaftlichen Verlag – in Buchform veröffentlicht werden. Mit der Veröffentlichungrechnen wir Ende 2021, Anfang 2022